Alice

Alice

Alice lehnte sich an die kühle Wand des Hochhauseinganges. Der Regen ergoss sich als nicht endend wollender Strom auf die nun leeren Strassen von Kabukichō. Es war vier Uhr morgens im April. Im Rotlichtviertel Tokyos hatte sie mit ihrem Kumpel Chesh die Nacht um die Ohren geschlagen. Das mitgenommene Geld, das für ein Hotelzimmer gedacht war, hatten sie für den mehrstündigen Besuch einer Karaokebar und einige Drinks zu viel ausgegeben. Der Karneval aus Spielmusik und Lichtblitzen war für Alice nur durch ein High von Nikotin und Alkohol ertragbar. Sie gab sich ihm ganz hin: Dem Rausch, den Eindrücken, dem Fremden. Japan oder Wunderland. Langsam döste sie vor lauter Erschöpfung weg.
Neunzig Minuten später wurde sie durch die Morgensonne geweckt. Im Land der aufgehenden Sonne ging sie tatsächlich früher auf. Sie hatten noch genügend Zeit, bis die Konferenz anfing, wegen der sie extra nach Tokyo gereist waren. Chesh schnarchte neben Alice, die den leeren Strassenabschnitt beobachtete. Um diese Zeit hatten die Arbeiter schon allen Dreck der Nacht aufgeräumt. Man sagt immer, die Japaner seien so sauber. Dabei sind sie einfach effizient. Die einen lassen den Dreck liegen, die anderen räumen ihn wieder auf. Die Ausländer, die nur kurz für einen Urlaub nach Japan kamen, bekamen diese Seite der Japaner gar nie zu Gesicht. Sie sahen nur das idealisierte Japan, den Stereotyp. Alice sah die Wirklichkeit. Sie war nicht besser als zu Hause.
Sie weckte Chesh und gemeinsam fuhren sie mit einem der ersten Züge der Yamanote-Linie zum Viertel der Universität. Nach dieser durchzechten Nacht sahen die Beiden wie Landstreicher aus, es war Zeit für eine Erfrischung. Das kleine Bahnhofcafé war fast leer. Die millimetergenau platzierten Kleingebäcke verströmten den süsslichen Duft, den sie nur haben, wenn sie frisch aus dem Ofen kommen. In der Ecke schlief ein Salaryman; so friedlich, als wäre er im weichsten Federbett. Alice holte sich einen Kaffee und einen Orangensaft, während Chesh sich nochmal hinlegte. Sie begab sich in die winzige Toilette.
Sie atmete tief aus und zog die Sonnenbrille vorsichtig vom Gesicht. Sie spiegelte sich fast unwirklich auf der rotbraunen Marmoroberfläche, in der das Becken zum Händewaschen eingelassen war. Das eiskalte Wasser, mit dem Alice das Gesicht wusch, vertrieb ihre Trägheit. Sie beobachte ihre Augen hinter den Spiegeln. Die europäischen Augen. Schon länger hatte sie ihre Haare schwarz gefärbt. Mit der Brille konnte man auf den ersten Blick nicht sehen, dass sie eine Fremde war.
Sie zog das nach Zigaretten und Fett stinkende T-Shirt aus und stopfte es in einen kleinen Plastiksack. Mit einer Serviette wusch sie erst den Oberkörper und kramte danach im Backpack-Rucksack nach einem Deo und einem frischen Oberteil. In die Haare sprayte sie etwas Parfüm. Sie nahm den Hello Kitty-Make-Up Beutel und fing an, ihr Gesicht zu schminken. Nach zehn Minuten sah das Resultat schon ganz passabel aus. So konnte man an eine Universitätskonferenz gehen.
Den ganzen Tag über hörte sie sich an der Eliteuniversität Vorträge aus den verschiedensten Richtungen der Japanforschung an. Sie wartete auf ein Zeichen. Auf etwas, das ihr Inneres vibrieren liess. So wie früher. So wie damals, als sie alles dafür gegeben hatte, ein Jahr nach Japan gehen zu können. Das Gefühl blieb aus und Alice verloren.
Es wurde Abend. So früh die Sonne auch aufging, so schnell überliess sie die Inselgruppe in Ostasien den Fängen der Nacht. Am Bahnhof Shinjuku fanden Alice und Chesh ein Manga-Café, in dem sie die verbleibenden zwei Stunden bis zur Abfahrt des Nachtbusses nach Kyoto rumschlagen konnten. Eine Art Wohnzimmer, in das man sich für einige Zeit einmieten konnte. Chesh rollte sich auch gleich auf das nächste Sofa, um schon wieder zu schlafen. Wie schaffte er das bloss? Schlaf war etwas, das Alice dieser Tage nur selten vergönnt war.
„Man kann hier auch duschen, oder?“, fragte sie den jungen Mann an der Theke auf Japanisch.
„Aber natürlich, ehrenwerter Gast“, sagte er. „Die Miete für ein Handtuch beträgt dreihundert Yen.“
Das zu heisse Wasser spülte den Tag und die vorangegangene Nacht in die Kanalisation Tokyos herunter. Ein wunderbares Gefühl.
Frisch geduscht setzte sich Alice an eine kleine Softdrinkbar, vor ihr das Notizbuch, in dem sie ihre Gedankenfetzen fest hielt. Wenn sie es las, schien es ihr, als würde es von einem anderen Menschen stammen. Ein Mensch, der ihr fremd war. So fremd wie das Land, in dem sie sich befand.
Sie schrieb:

Wer ist Alice?
Nichts und alles. Der Moment und die Unendlichkeit.
Was bleibt, wenn man sich verliert?
Wenn alle Facetten des Selbst sich auflösen?
Hilf mir!
Jemand!

Alice starrte aus dem Fenster auf die enge Gasse fünf Stockwerke unter ihr. Neben den Abfallsäcken war eine Kolonie Ratten dabei, sich ein Festmahl zu gönnen. Betrunkene Mädchen mit hochhackigen Schuhen und Glitter in den Haaren stolperten kreischend an ihnen vorbei. Sie weckte Chesh und gemeinsam gingen sie zum Nachtbusbahnhof. Als sich der Bus durch den Abendverkehr Tokyos schlängelte, schlief Alice endlich ein.